The Social Dilemma – Gibt es keine Wahrheit?
Ich habe die Dokumentation „The Social Dilemma“ von Netflix endlich gesehen. Und ich bin zugegeben ein bisschen ratlos, auch was all das Lob angeht.
Zunächst: Die Doku ist richtig und wichtig. Sie transportiert ein Problem, dass bisher nur unter Technik-Affinen Menschen diskutiert wurde, in eine breite Öffentlichkeit:
Im Zeitalter der Aufmerksamkeitsökonomie buhlen Apps um unsere Aufmerksamkeit. Sie werden also bewußt so gestaltet, dass sie uns dazu verführen (süchtig machen), sie möglichst oft und möglichst lange zu nutzen. Menschen denen das klar ist, schalten deswegen so gut wie alle Benachrichtigungen ab und installieren keine oder nur sehr wenige Soziale Netzwerke auf ihren Geräten. Bei mir z. B. darf nur Threema, SMS und das Telefon meine Aufmerksamkeit erzwingen. Alles andere ist zum Schweigen verdammt, Facebook z. B. habe ich gar nicht erst als App installiert.
Soweit so gut.
Als zweiten Punkt spricht die Doku das Problem der Algorithmen an. Um das erste Ziel, die Nutzung der Apps, zu erreichen, versuchen die Programme unser Verhalten zu analysieren. Neben Design-Tricks wie Infinity-Scroll oder der „hier ziehen zum Aktualisieren“-Mechanismus sind ein Teil. Ein weiterer Teil ist aber eben, uns die Informationen zu zeigen, bei denen wir am längsten verweilen oder wo wir am ehesten aktiv interagieren.
Dieser Punkt führt jetzt zu dem eigentlichen Dilemma, dass der Film ansprechen möchte:
Menschen, die sich z. B. verstärkt zu Verschwörungs-Theorien hingezogen würden, gleich ob Impfgegner, Coronaleugner, G5-Aluhüte oder Flachweltler, bekommen verstärkt, manchmal exklusiv Inhalte, die zu ihrem Glauben passen. Das bestätigt sie darin, nicht alleine zu sein. Der Mensch sehnt sich nach einer Gruppenzugehörigkeit.
Es bestärkt sie aber auch darin, Recht zu haben und eine „Wahrheit“ zu kennen.
Das führt dann, so die Doku, zu dem Phänomen das sich zwei Gruppen gegenüber stehen. Sagen wir solche, die an Corona glauben und Masken tragen und solche, die nicht an Corona glauben und Masken verweigern. Beide Gruppen bekommen bei Facebook, Twitter und ja, auch bei Google verstärkt bis exklusiv das angezeigt, was sie eh glauben. In der Folge sind sie davon überzeugt, dass ihre Sicht wahr ist. Die andere Seite ist verblendet, dumm, unfähig, uninformiert, sucht Euch was aus.
Und an dieser Stelle biegt die Netflix-Produktion falsch ab:
Die Macher haben sich darauf verständigt, dass die Message am Ende sein muss, dass es mehr gesetzliche Regulation geben muss. Sie klammern aber bewusst ein Thema aus: Sie verweigern sich der Frage, was Wahrheit ist.
Und das ist problematisch, weil der Eindruck bleibt, dass beide Seiten irgendwie Recht haben könnten in ihrer Meinung. Und ja, ihre Meinung sei ihnen unbenommen, Recht hat aber nur die Seite, die die Wahrheit repräsentiert.
Wahrheit ist dabei m. M. n. das, was wissenschaftlich bewiesen ist. Wir haben die Erde umrundet, wir haben zig Studien zum Thema Impfschäden, die nie einen Beweis für nennenswerte Probleme wohl aber für große Erfolge gebracht haben. Wissenschaft ist dabei nicht unfehlbar, denn der Kern von Wissenschaft ist es ja gerade, sich selbst immer wieder zu hinterfragen (Thesen erstellen), zu prüfen (Beweise zu führen) und schließlich eine reproduzierbare(!) Wahrheit zu erzeugen.
Hier wird der Film seiner Verantwortung nicht gerecht. Es hilft nicht, wenn eine der interviewten Person sagt, man solle auch abweichende Meinungen akzeptieren. Das ist selbstverständlich. Wichtiger wäre gewesen einen Mindest-Maßstab für Wahrheit zu definieren und klar zu machen, dass vieles von dem was man in sozialen Medien liest, eben nicht Wahrheit, sondern Fiktion ist. Und Fiktion darf nicht zum Leitmaß unserer Gesellschaft werden.
Insofern verfehlt der Film sein Ziel. Denn die Behauptung, Facebook und Co wüssten nicht, was Wahrheit ist, ist schlicht falsch. Sie scheuen schlicht die Kosten, Unwahrheiten eindeutig und vollumfänglich so zu kennzeichnen. Denn dazu müsste man viele Experten einstellen, die das Wissen bewerten.
Das klingt unmöglich, meint Ihr?
Ist es nicht. Überlegt mal, wie gut in den meisten Fällen der Selbstkorrektur-Mechanismus von Wikipedia funktioniert. Wir sind lange von dem Punkt weg, als alle möglichen Menschen erklärten, dort könne man keine verlässlichen Informationen beziehen. Heute gibt es Lehrende an Hochschulen, die Wikipedia als Quellen akzeptieren. Eben weil dort immer und immer wieder Wissen kritisch hinterfragt wird. Das geht auch in sozialen Medien – man muss es in dem Fall nur bezahlen wollen.
Um aber noch mal was positives zu sagen: Die Dokumentation legt sehr viel Wert darauf, dem Zuschauer zu erklären, dass er nicht der Kunde ist, sondern das angebotene Produkt. Und das die Nutzer der sozialen Medien nicht etwas umsonst bekommen. Vielmehr sind die, die solche Netzwerke bezahlen diejenigen, die über Euch und Eure Daten verfügen.
Und noch ein Punkt:
Die Doku beleuchtet sehr gut, wie massiv die Auswirkungen der virtuellen Realität auf die echte Welt inzwischen sind. Das sehen wir bei den Wahlen in den USA, bei den Protesten in vielen Ländern. Aber eben auch bei den Demos der sich stark radikalisierenden Realitätsverweigerer in Deutschland, gleich ob Corona-Leugner oder „Besorgte“.
Es hilft allerdings nicht, immer nur nach mehr Regulation zu rufen. Aus technischen Gründen wird die Gesetzgebung immer hinterher hinken. Es liegt an uns, immer wieder Wahrheit zu definieren: Mit Quellen, mit Nachweisen, mit Links. Und dazu müssen wir das Gespräch suchen.
Auch wenn es anstrengend ist.
Und darüber hinaus muss dann tatsächlich gesetzlich gesteuert werden. Darauf verlassen darf man sich nur nicht. Denn was Gesetz ist, entscheiden Regierungen. Wer regiert, entscheiden Wahlen. Wer gewählt wird, Ihr ahnt es…